Dr. Zeuner :Das Lehrmaterial "Einführung in die Landeskundedidaktik" - Von der Broschüre zum hybriden Lernarrangement

3.4. Merkmale der Lernsituation und Spezifikation der Lernorganisation

Der eben skizzierte Anspruch vieler Studierender, die eine Lehrveranstaltung vor allem deshalb belegen, weil sie den Schein dafür als Pflichtschein benötigen, d.h. dieses "Sich-Zurücklehnen", dieses "Nun gib uns mal ein paar Fakten, die wir lernen können, um die Klausur zu bestehen, aber belaste uns nicht zu sehr dabei" entspricht einem Trend, den Werner Lenz "Lernen statt Bildung" nennt:

"Lernen statt Bildung: Bildung, die sich als Persönlichkeitsentwicklung, Reflexion, kritische Auseinandersetzung, als Suchprozeß nach besseren Argumenten und Widerstand gegen das Geläufige versteht, tritt zurück. Es setzt sich Lernen durch, das an Vorgegebenes anpaßt, in die Erfordernisse der Arbeitswelt eingliedert und in den mainstream der herrschenden Gedankenwelt bequem einbettet. Bildung eröffnet, läßt suchen und provoziert - hier verwende ich analog, was der kürzlich verstorbene Regisseur Heiner Müller vom Theater erwartet - Unzufriedenheit, indem sie keine endgültige Lösung anbietet. Lernen hingegen schließt ab, erledigt, zielt darauf, etwas gelernt zu haben und dieses auch noch überprüfen zu können. Der angebbare, einer Evaluation standhaltende Effekt verdrängt den Prozeß des zögernden, vorsichtigen Suchens." (Lenz 2001)

Eine Vorlesung befördert diese Tendenz meines Erachtens, indem sie etwas vorgibt, etwas darlegt, in einer Doppelstunde etwas Abgeschlossenes bietet, was dem Studierenden das Gefühl gibt, etwas abgehakt zu haben, das er zu den Akten legen kann. Eine Vorlesung kann Kenntnisse vermitteln - wenn es um intellektuelle Fertigkeiten und kognitive Strategien geht, benötigt sie einen Hörer, der zu Beginn seines Studiums eher selten zu finden ist. Wollen wir aber "Lernen statt Bildung" befördern in einem Universitätsstudium oder geht es nicht eigentlich um "Bildung"?

"Wer sich bildet, sucht seinen Standort. Wer sich auf Bildungsprozesse einläßt, bezweifelt Vorgegebenes und stärkt die eigene Urteilskraft. Merkmale einer solchen Bildung sind meines Erachtens:
- Zusammenhänge suchen und beachten, um nicht von Einzelheiten getäuscht oder geblendet zu werden;
- strategisch denken, d.h. über ein unmittelbares Ergebnis hinaus, Folgen und weitere Entwicklungen abschätzen;
- sich kritisch - also beurteilend - verhalten, um zu vermeiden, von raschen Informationen, Gerüchten, plakativen Aussagen, von Demagogen und Panikmachern überrollt zu werden;
- auf sich selbst vertrauen und als starkes Individuum in einer schwer überschaubaren Welt sich nicht an jede neue, modische Tendenz anpassen, sondern eigene Überzeugungen aufbauen und zu diesen stehen." (Lenz 2001)

Diese Merkmale von Bildung, die Lenz hier nennt, entsprechen in weiten Bereichen den in-tellektuelle Fertigkeiten und kognitive Strategien, die oben als Lehrziel dieser Einführungs-veranstaltung erläutert wurden. Sie sind mit dem skizzierten "Anspruch" (eher Anspruchslosigkeit!) vieler Studierender an eine Vorlesung offensichtlich nicht zu erreichen.

Den Einsatz von Vorlesungen zur Wissensvermittlung im Grundstudium problematisiert Kronsteiner in seinem Aufsatz mit dem provokanten Titel "Die Vorlesung ein Relikt der me-dialen Steinzeit?" (1999) generell. Er stellt dar, dass dieses Unterrichtsmodell seinen Ursprung im Mittelalter hatte und dazu diente, noch nicht gedruckte unveröffentlichte Texte einem größeren Kreis zugänglich zu machen. In Verruf gekommen sei die Vorlesung dadurch,

"dass ihr Inhalt Semester-lang der gleiche, ermüdend oder langweilig, und die Form der Präsentation kläglich waren. Dennoch sind die meisten mit Venia legendi behafteten Professoren nach wie vor überzeugt, dass eine Vorlesung je unverständlicher und länger desto wissenschaftlicher, und je verständlicher und kürzer desto unwissenschaftlicher, populärer (ein grobes Schimpfwort unter Akademikern!) und unseriöser ist. ..." (Kronsteiner 1999)

Er plädiert dafür, dass Vorlesungen wirklich ihrem ursprünglichen Zweck dienen sollten, nämlich als freier Vortrag "ohne zeitliche Vorgaben mit Diskussion, zu einem wesentlichen Element akademischen Lebens und zur Wissensvermittlung über den jeweils neuesten Forschungsstand werden" (Kronsteiner 1999). Im Grundstudium seien sie - so verstanden - nicht nötig. Hier sollten Fachleute das Grundwissen medial aufbereiten, das dann von den Studierenden rezipiert werden muss. Dieses medial erworbene Grundwissen wäre dann in Kolloquien abzufragen, zu testen und zu beurteilen. Erst dann, so Kronsteiner, ist eine kreative Verwendung des Wissens möglich.

Belehrungen durch eine Vorlesung gehören, so räumt Osterloh ein, " - wohlverstanden und in ihren Grenzen - zum unverzichtbaren Bestand der Lehrkultur an der Hochschule". Es könne "schön, interessant, bereichernd sein ... , sich belehren zu lassen - die positiven Beispiele, die sich hierfür anführen ließen, reichen von der Enzyklopädie, die man nicht wieder aus der Hand legt, wenn man sie einmal aufgeschlagen und sich, wie man dann sagt, "festgelesen" hat, bis hin zur fesselnden Vorlesung, in der die kenntnisreiche, erfahrene Person wissen-schaftliche Zusammenhänge darlegt und Einsichten vermittelt, wie sie anders kaum zu ge-winnen wären" (Osterloh 1999). In Ergänzung dazu fordert er eine Entwicklung von einer Belehrungskultur hin zu einer hochschulischen Lernkultur und begründet dies mit einem radikal veränderten Bild von Gesellschaft, Kindheit und Jugend, Erziehung, Unterricht und Bildung heute, aus dem auch Folgen für die Hochschule resultierten:

"Folgen für die Gegenwart: Die Hochschule entwickelt sich immer stärker zu einer Veranstaltung unter vielen, sie ist in den Augen vieler Studierender nicht länger konkurrenzlos, weder als Erlebnisraum - im Vergleich mit Kultur, Urlaubstrips, "Love Parade" - noch als wissenschaftliche Lehr/Lerninstitution - z.B. unter der Wucht des Medienangebots. Andererseits rückt sie immer mehr zu einer Einrichtung auf, die die überlebensnotwendigen Fähigkeiten des Lernens und des wissenschaftlich begründeten Problemlösens entwickeln, vermitteln und transparent werden lassen kann und muß.
Folgen für die Zukunft: Sie hat der ... Philosoph NIDA-RÜMELIN (1999) am Beispiel des Hochschullehrers des Jahres 2010 perspektivisch in Worte gefaßt: Er "wird sich in dieser doppelten Aufgabenstellung in der Lehre auf die Vermittlung von Grundlagenwissen und paradigmatischen Forschungsinhalten konzentrieren" - hieraus resultiert für mich die Stärkung hochschulischer Lehr-Kultur. NIDA-RÜMELIN weiter:"Die heute noch reichlich chaotischen Informationskanäle werden bis dahin so weit strukturiert sein, daß bloßes Wissen weiter entwertet wurde. Die Lehrziele werden sich daher weiter von der Wissensvermittlung weg zu Methodenverständnis, Urteilskompetenz und Entscheidungsrationalität hin verlagern" (Zit. S. 347, Hervorh. d. Verf.) - hiermit verbindet sich für mich die Entwicklung hochschulischer Lern-Kultur." (Osterloh 1999)

Auch Osterloh betont also, dass reine Kenntnisvermittlung durch Belehrung nicht ausreicht, sondern schon in der Gegenwart Hochschule die Fähigkeiten des selbstständigen Lernens und des wissenschaftlich begründeten Problemlösens zu entwickeln hat und in der Zukunft neben der Vermittlung von Grundlagenwissen die Ausbildung von Methodenverständnis, Urteilskompetenz und Entscheidungsrationalität immer wichtiger werden wird. Dafür sind schon in Einführungskursen intellektuelle Fertigkeiten und kognitive Strategien, wie sie weiter oben als Lehrziele formuliert wurden, essenziell - jedoch nicht allein durch Belehrung zu entwickeln.

Speziell für die Ausbildung von Sprach- und Kulturvermittlern - wie sie unsere DaF-Studierenden einmal sein werden - ist schließlich mit Rösler auch noch kritisch zu fragen, "ob Referate und Hausarbeiten, die kanonisierten autonomen Lernweisen an der Universität, so dominierend bleiben müssen, oder ob nicht mit stärker selbstorganisiertem arbeitsteiligem Projektlernen eine andere Lernerfahrung vermittelt werden kann, die dann weiterwirkt", denn "teachers teach as they were taught, not as they were taught to teach" (Rösler 1998, 17).

Diese eben referierten und zitierten hochschuldidaktischen Überlegungen machten ein für die Einführungsveranstaltung "Einführung in die Landeskundedidaktik" bestehendes didaktisches Problem deutlich:
Wichtige Lehrziele im Bereich intellektueller Fähigkeiten und kognitiver Strategien sowie affektiver Ziele, die zugleich Grundlagen für Bildung im Sinne von Persönlichkeitsbildung und fachlicher Bildung sind, lassen sich bei der gegebenen Motivationsstruktur und Heterogenität der Zielgruppe nicht allein durch Belehrung im Rahmen einer Vorlesung mit begleitendem Seminar erreichen. Es ist vielmehr notwendig, Wege von dieser Belehrungskultur hin zu einer Lernkultur zu suchen, die die Lernenden veranlasst, ihre Haltung des Zurücklehnens und Sich-Belehren-Lassens aufzugeben und sie zwingt, sich Grundlagenwissen aktiv selbst anzueignen und dabei eigenes Lernen zu lernen und intellektuelle Fertigkeiten und kognitive Strategien auszubilden, die zu Methodenverständnis, Urteilskompetenz und Entscheidungsrationalität im Fach führen können.

Die Mitarbeit des Lehrbereichs DaF am Projekt "Multimediales und vernetztes Lernen - Studierplatz Sprachen" der TU Dresden (http://call.tu-dresden.de/) machte es möglich, nach einer Lösung für dieses didaktische Problem zu suchen. In diesem Projekt entstehen auf der Basis einer von Lernpsychologen der TU entwickelten Software "Studierplatz Sprachen" (http://linus.psych.tu-dresden.de/Stupla/study2000) verschiedene multimediale Lernumge-bungen. In den nächsten Abschnitten des Textes soll die für die Einführungsveranstaltung "Einführung in die Landeskundedidaktik" entwickelte multimediale Lernumgebung als eine Lösungsmöglichkeit des genannten didaktischen Problems vorgestellt werden.


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