Eisgekühlt und zäh wie Honig: Neue Einblicke in „Magnetberge“ aus Ferrofluid
Universität Bayreuth, Pressemitteilung Nr. 063/2016 vom 18. April 2016
Experimentalphysiker der Universität Bayreuth haben ein Verfahren entwickelt, mit dem sich ungewöhnliche Strukturbildungen in magnetischen Flüssigkeiten erheblich genauer untersuchen lassen, als dies bisher möglich war. Über ihre in der Fachwelt vielbeachteten Ergebnisse berichten sie in der Zeitschrift „Physical Review E“. Die Grundlagenuntersuchung ist im Profilfeld „Nichtlineare Dynamik“ der Universität Bayreuth entstanden, in dem sich Wissenschaftler aus verschiedenen natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zusammengeschlossen haben.
Ferrofluide sind
magnetische Flüssigkeiten. Sie enthalten magnetische, mit Tensidhüllen
stabilisierte Partikel, die rund 10 Nanometer groß sind und sich in
einer Trägerflüssigkeit wie Wasser oder Öl verteilen. Abstoßungskräfte
verhindern, dass sich die Nanopartikel darin aneinanderlagern und
verklumpen. Da Ferrofluide stark von Magneten angezogen werden kommen
sie in vielen technischen Anwendungen zum Einsatz – sei es zur Kühlung
von Lautsprechern, zur Abdichtung von Computer-Festplatten, zum Antrieb
von Weltraum-Raketen oder zur Erkennung und Therapie von Tumoren.
Magnetberge in einem Ferrofluid. Der schalenförmige Behälter hat einen Durchmesser von 120 Millimetern. - High-Dynamic-Range-Foto: © Achim Beetz, Universität Bayreuth; mit diesem Bildnachweis zur Veröffentlichung frei.
Stabile Magnetberge, erzeugt durch ein externes Magnetfeld
Schon
seit 50 Jahren interessiert sich die Forschung für ein scheinbar
rätselhaftes Phänomen: die Fähigkeit von Ferrofluiden, „Magnetberge“
auszubilden. Wird beispielsweise ein Behälter mit einem Ferrofluid
gefüllt, so ist die Oberfläche der Flüssigkeit flach wie der
Wasserspiegel eines Sees bei Windstille. Sobald jedoch ein hinreichend
starkes Magnetfeld senkrecht zur Oberfläche angelegt wird, entstehen
Magnetberge, die als zentimetergroße kegelförmige Stacheln aus der
Flüssigkeit herausragen. Hinreichend stark ist das Magnetfeld genau
dann, wenn die Feldstärke oberhalb eines kritischen Werts liegt. Solange
das Magnetfeld unverändert bleibt, bilden die Magnetberge eine stabile
Struktur. Wegen ihrer steilen Höhen und Tiefen steigt zwar die Lage- und
Oberflächenenergie, dies wird jedoch durch eine Verringerung der
magnetischen Energie mehr als ausgeglichen. Dies ist der Ursprung der
Instabilität.
Seit den Untersuchungen, mit denen der
U.S.-amerikanische Ingenieur Ronald Rosensweig in den späten 1960er
Jahren international bekannt wurde, sind Magnetberge in Ferrofluiden ein
vieldiskutiertes Thema der Forschung zur Musterbildung. Auch an der
Universität Bayreuth befassen sich Experimentalphysiker um Prof. Dr.
Ingo Rehberg und Priv. Doz. Dr. Reinhard Richter seit vielen Jahren mit
diesen Strukturen und ihrer Entstehung. Mit ihrem jetzt in „Physical
Reviews E“ veröffentlichten Forschungsbeitrag knüpfen sie an ältere, an
der TU Dresden entstandene theoretische Prognosen an, die sich auf das
Wachstum der Magnetberge beziehen. Deren empirische Bestätigung schien
bisher aussichtslos.
Wachstumsraten von Magnetbergen: Von der Theorie zur Empirie
Aufgrund theoretischer Berechnungen war prognostiziert worden, dass die Magnetberge bei plötzlichem Anschalten eines hinreichend starken – also den kritischen Wert überschreitenden – Magnetfelds zunächst exponentiell anwachsen. Ihre Wachstumsrate beschreibt, ob das exponentielle Wachstum langsam oder schnell erfolgt. Bereits vor 15 Jahren hat der theoretische Physiker Dr. Adrian Lange an der TU Dresden vorhergesagt, dass sich in Bezug auf die Wachstumsrate zwei Bereiche unterscheiden lassen: Falls das plötzlich angeschaltete Magnetfeld eine Feldstärke hat, die zwischen dem kritischen Wert und einem Schwellwert liegt, hängt die Wachstumsrate linear von der Feldstärke ab. Anders verhält es sich bei Feldstärken jenseits des Schwellwertes. Dann hängt die Wachstumsrate nicht-linear von der Feldstärke ab.
Diese
zweite theoretische Vorhersage konnten die Physiker in Bayreuth und
Dresden aufgrund von Messungen bereits 2007 empirisch bestätigen. „Bei
der ersten Vorhersage haben wir eine derartige Bestätigung jedoch für
aussichtslos gehalten“, erinnert sich Dr. Reinhard Richter. „Denn bei
den in der Forschung üblicherweise eingesetzten Ferrofluiden gibt es nur
einen winzigen Feldbereich, in dem die lineare Abhängigkeit zu erwarten
ist. Deshalb haben wir nicht damit gerechnet, diese Linearität durch
Messungen empirisch verifizieren zu können.“
Doch unverhofft kam den Wissenschaftlern die Entdeckung eines Bayreuther Doktoranden entgegen.
„Magnetischer Honig“
Christian
Gollwitzer, der heute an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in
Berlin tätig ist, entwickelte im Rahmen seiner von PD Dr. Reinhard
Richter betreuten Doktorarbeit einen speziellen Kühler für ein
Experiment, das mit der Untersuchung von Ferrofluiden ursprünglich
nichts zu tun hatte. Wegen seiner achteckigen Form erhielt das Gerät den
Spitznamen „Octopussy“. Es dauerte nicht lange, bis Gollwitzer und
Richter erkannten, dass dieser Kühler die experimentell scheinbar
hoffnungslose Frage nach der linearen Abhängigkeit lösen könnte.
Robin Maretzki M.Sc., Prof. Dr. Ingo Rehberg und PD Dr. Reinhard Richter (v.l.n.r.) in einem Labor der Bayreuther Experimentalphysik. Vorn die Kühlungsapparatur „Octopussy“. Foto: Christian Wißler; zur Veröffentlichung frei.
Das Team wählte das zähflüssigste im Handel erhältliche
Ferrofluid und kühlte es mit Octopussy, bis es zäh und dickflüssig war,
wie Honig aus dem Kühlschrank. Dann legten sie schlagartig ein
magnetisches Feld an und beobachteten die Berge beim Wachsen. Der
gesamte Prozess brauchte nun viel länger als bei Raumtemperatur. Er
dauerte 2000 mal so lang wie bei üblichen Ferrofluiden – etwa 60
Sekunden statt wenige Millisekunden.Diese Verwendung von „magnetischem
Honig“ hat zwei experimentelle Vorteile:
* Die Forscher sind
dadurch in der Lage, den winzigen Feldstärkebereich der linearen
Abhängigkeit drastisch zu strecken. Dies ist möglich, weil der
Schwellwert, der die lineare und die nicht-lineare Abhängigkeit der
Wachstumsraten voneinander trennt, mit der Viskosität des Fluids wächst.
*
Darüber hinaus macht es das langsame Anwachsen der Magnetberge möglich,
ein langsames und zugleich hochgenaues Röntgenverfahren zu verwenden.
In Bayreuth entwickeltes Röntgenverfahren zur Vermessung der Magnetberge. Grafik: © Dr. Reinhard Richter, Universität Bayreuth; mit Bildnachweis zur Veröffentlichung frei.
Röntgenverfahren zur Vermessung der magnetischen Berge
Dieses
von den Bayreuther Experimentalphysikern um Prof. Rehberg entwickelte
Verfahren ist imstande, die Oberfläche der Magnetberge vollständig zu
erfassen. „Röntgenstrahlen, die magnetische Berge durchdringen, werden
stärker abgeschwächt als Röntgenstrahlen, die Täler durchdringen. Nach
einer Kalibrierung lässt sich das Oberflächenprofil vollständig
rekonstruieren.“ so Richter. Infolge dieser kreativen Entwicklungen
gelang es den Teams aus Dresden und Bayreuth, die lineare Abhängigkeit
der Wachstumsrate zu bestätigen, die 15 Jahre zuvor prognostiziert
worden war. An den Forschungsarbeiten war auch der Bayreuther
Master-Student Robin Maretzki mit speziellen Messungen beteiligt.
Von diesem Forschungserfolg schlägt Dr. Reinhard Richter eine wissenschaftsgeschichtliche Brücke zu einem berühmten, bis heute andauernden physikalischen Experiment: „An der University of Queensland wurde im Jahre 1930 ein Trichter mit Pech gefüllt. Dieses Pech ist so hochviskos, dass sich nur etwa alle 15 Jahre ein Tropfen ablöst. Der neunte Tropfen wurde 2014 beobachtet und allseits gefeiert. Unser ‚magnetischer Honig‘ kommt da nicht ganz ran, aber wir möchten unsere Doktoranden ja nicht zu lange beschäftigen“, bekräftigt Richter.
Forschungspartner und Mitglied im Autorenteam der neuen Studie: PD Dr. Adrian Lange, TU Dresden. Foto: privat.
Veröffentlichung:
Adrian Lange,
Christian Gollwitzer, Robin Maretzki, Ingo Rehberg, and Reinhard
Richter, Retarding the growth of the Rosensweig instability unveils a
new scaling regime,
in: Physical Review E 93, 043106 – DOI: 10.1103/PhysRevE.93.043106.
Der Artikel wurde von den Herausgebern der Fachzeitschrift ausgezeichnet.
Besprechung des Artikels im „Physics Buzz“ der American Physical Society:
Mountains Made of "Magentic Honey" Lead to New Insights,
http://physicscentral.com/buzz/index.cfm
Drei Bayreuther Autoren der Studie: Robin Maretzki M.Sc., Prof. Dr. Ingo Rehberg und PD Dr. Reinhard Richter (v.l.n.r.) an der Röntgenanlage zur Vermessung der Rosensweiginstabilität: Im Vordergrund „Octopussy“. Foto: Christian Wißler; zur Veröffentlichung frei.
Kontakte:
PD Dr. Reinhard Richter
Lehrstuhl Experimentalphysik V
Universität Bayreuth
95440 Bayreuth
Telefon: +49 (0) 921 – 553344
E-Mail: reinhard.richter@uni-bayreuth.de
Prof. Dr. Ingo Rehberg
Lehrstuhl Experimentalphysik V
Universität Bayreuth
95440 Bayreuth
Telefon: +49 (0) 921 – 553351
E-Mail: ingo.rehberg@uni-bayreuth.de
Text und Redaktion:
Christian Wißler, M.A. und PD Dr. Reinhard Richter
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95440 Bayreuth
Telefon: +49 (0)921 / 55-5356
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